Samstag, Juni 04, 2005

Eine Geschichte aus dem Jahr 2001

Wie hebt man einen etwa 40 Kilo schweren Malamut über eine rund zwei Meter hohe Felswand?
Gar nicht, eben.
Da nützt es einem auch nichts, daß dieser Hund, ich muß präziser sein, daß diese Hündin sich in ihrem Leben bisher als äußert geländegängig und bergtauglich erwiesen hat. Carhu, so ihr Name, begriff einfach nicht, daß sie von meinen Armen aus auf den weiter oben liegenden Felssims springen sollte. Hätte ich sie wie ein Gewichtheber stemmen können, wäre diese kleine Felswand kein unüberwindliches Hindernis mehr gewesen, aber wie gesagt, ohne Carhus Kooperation wurde nichts daraus. Auch mehrmalige Versuche brachten mich der Überwindung der Felswand nicht näher, sondern die schwindenden Kräfte in meinen Armen, ließen die Situation, zumindest für Carhu, nur gefährlicher werden, da ich sie beim Heben nicht mehr so sicher halten konnte.
Carhu verhielt sich in meinen Händen ruhig und ließ geduldig alle meine Versuche über sich ergehen, nur selber machte sie keine Anstalten aktiv zu werden. Das führte dazu, daß meine Laune kurz ins ärgerliche abdriftet und ich mit dem Hund haderte. Konnte sie nicht ein bißchen mitarbeiten? Aber es war Carhu nicht begreiflich zu machen, meine sicheren Hände zu verlassen.
So mußte ich das Unternehmen abblasen, die Situation überdenken und nach Alternativen suchen. Dem Hund konnte ich dabei doch keine Vorwürfe machen, sie tat ihr bestes und klettern war nun mal nicht ihre Sache. Außerdem, war nicht viel mehr meine zu geringe Kraft in den Armen schuld am Mißlingen des Vorhabens?
Keine Schuldzuweisungen, die Felswand war für uns unüberwindlich und damit genug.

Dabei wäre es danach zwar sehr steil, aber für den Hund doch bezwingbar weitergegangen. Ich hatte meinen Rucksack am Fuße der Felswand abgesetzt und war den gesicherten Teil des Steiges weiter nach oben geklettert. Metallstäbe als Tritthilfen und Drahtseile zum festhalten erleichterten mir das Vorankommen, wären aber nicht unbedingt notwendig gewesen. Zuerst führte der Steig eine Rinne bergauf, und ich überlegt mir dauernd, ob Carhu es schaffen könnte. Erde, Graspolster und kleine Felsvorsprünge ließen mich hofen, daß sie es schaffen würde. Abrutschen und den Halt verlieren dürfte sie nicht. Sie würde durch die Rinne und über die kleine Felswand hinunter stürzen. Diese Rinne wäre der gefährlichste Teil, doch wenn ich sie am Halsband anleinte, könnte ich vielleicht etwas Hilfestellung geben.
Nach der Rinne schwenkte der Steig nach rechts, blieb immer noch steil, aber Tritthilfen waren keine mehr nötig, doch ein Drahtseil verlieh Sicherheit. Nach unten hin schlossen Felsnasen den Abhang ab und nach ein paar Metern Kletterei erreichte man deutlich flacheres Gelände mit Almmatten, das ein problemloses Wandern versprach. Bis zum Hochplateau wußte ich, konnte es nicht mehr weit sein, denn obwohl ich diesen Weg noch nie gegangen war, sagte mir mein Orientierungssinn "ein paar Meter noch, und du stehst vor der kleinen Kapelle".
Ich war zufrieden, denn jetzt wußte ich, der Steig war zwar schwierig und gefährlich, aber gangbar. Ich kehrte um, stieg zu meinem brav wartenden Hund zurück. Wieder bei Carhu überlegt ich, ob ich zuerst mit dem Rucksack vorausgehen sollte, entschied mich aber anders. Ich hieß Carhu aufstehen, faßte sie unter dem Brustkorb und hinter den Hinterläufen, hob sie bis auf Schulterhöhe - und mußte erkennen, daß das zu wenig war. Es fehlte noch ein Stück. Nur, wie dieses Stück überwinden?
Für Bergwanderer wie mich gab es in etwa einer halben Meter Höhe einen Eisensporn als Steighilfe, doch mußte man sich gleichzeitig am, am oberen Rand befindlichen Drahtseil raufziehen. Meine Hände waren aber voll, voll mit Hund. Damit war die Tritthilfe nicht wirklich eine Hilfe für uns. 40 Kilo werden sehr schnell zu schwer, also setzte ich Carhu wieder ab, die nicht ganz begriffen hatte, warum ich sie denn gerade hier am Berg hochgehoben hatte.
Ich wollte noch nicht aufgeben. Nur diese Felswand stand zwischen meinem Ziel, die Heukuppe auf einer anderen Route zu besteigen, und der Niederlage des abbrechen müssens.
Carhu hochheben die zweite. "Hund, kletter da rauf, los, trau dich". Doch Carhu blieb ruhig in meinen Armen liegen.
"Wenn ich sie anders hebe, ihre Vorderpfoten auf die Felswand stelle und sie dann raufschiebe?" Doch Carhu begriff nicht was ich mit ihr anstellte und wurde zunehmend unruhiger. Ein letzter Versuch. Heben und stemmen und vielleicht...
Carhu blieb ruhig und das war gut so, denn wäre sie jetzt unruhig oder panisch geworden, ich hätte sie nicht mehr halten können und sie wäre mir aus den Händen ein paar Meter abgestürzt.
Ich atmete schwer und erholte mich vom Heben, Carhu erleichtert wieder am Boden zu sein sah mich groß an. Sie würde mir mit all ihr zur Verfügung stehenden Mitteln folgen, doch vorausklettern, das war und blieb ihr fremd.
"Guter Hund, braver Hund", dann eben nicht.

Es war ohnedies schon später Nachmittag, doch die milde Herbstsonne erwärmte unseren Flecken, die Aussicht war auch am Fuß der Felswand schön, der Hunger kam, also legte ich eine Rast ein. Essen, trinken, auch etwas für meinen Hund, den Ausblick auf die dicht bewaldeten Hügel, auf den einsamen Hof am Bergfuß und auf die gegenüberliegenden Berggipfel genießen, rasten, die Wärme genießen und die gewonnene Zeit, denn wir mußten ja nicht mehr auf den Gipfel.
Für den Gipfelsieg hatte ich mir eine Zigarre eingepackt. Doch hier am von der Sonne gewärmten Felsen sitzend, die Landschaft zu Füßen und meinen, nichtbestiegenen Berg im Rücken, einsam mit meinem Hund, der sich gemütlich hingelegt und ausgestreckt hatte, öffnete sich ein Zeitfenster, entließ mich der Alltag - und diesen Moment würde ich nun mit meiner mitgebrachten Zigarre krönen.