Sonntag, Jänner 09, 2005

Ein Kirchenschiff

Es gibt einen Abschnitt der Forststraße, an dem bilden die angrenzenden Bäume ein gotisches Kirchenschiff, mit einem erhabenen Spitzgewölbe. Die Forststraße führt am Kamm entlang und links und rechts stehen meist alte Buchenbestände. Der angesprochene spezielle Abschnitt aber, unterscheidet sich von anderen, ähnlich aussehenden, denn einen vergleichbaren harmonischen geglückten Eindruck konnte ich bisher nirgends wiederfinden.
Die Straße bildet den Boden und öffnet den Raum, wie in alten Kathedralen, bevor die Bestuhlung den Raumeindruck gemindert hat. Sie verläuft, an einer Wegkreuzung beginnend, vielleicht hundert Meter gerade, steigt dabei leicht an, um über eine Kuppe nach links hinten wegzubrechen. So blickt man nicht einer sich in der Ferne verlierenden Straße nach, sondern der Baumbestand schließt den von der Straße eröffneten Raum nach hinten ab. Aber nicht dicht und dunkel, wir befinden uns auf der Kammlinie, nein, der Bestand ist luftig, offen und hell und so entsteht der Eindruck, als würden dort strahlend durchscheinende Glasfenster den Altarbereich einrahmen.
Aber zurück zum großen Hauptschiff. Das wird nämlich links und rechts von mächtigen grauen Buchen begrenzt, die wie gewaltige Steinsäulen die Last des Daches tragen und den Blick in die Tiefe des Raumes lenken. Astfrei wachsen sie etwa zwanzig Meter in die Höhe, bevor symmetrisch von beiden Seiten, in spitzen Winkeln beginnend und dann leicht überhängend, relativ feine Äste eine Art natürliches Gewölbe bilden. Eben ein typisches gotisches Spitzgewölbe, mit den zur Versteifung nötigen Gewölberippen, von der Natur vorgezeigt. Doch auch das Gewölbe verdunkelt nicht, obwohl es schützend wirkt, es bleibt lichterfüllt, lebendig, offen.
Der Anblick beflügelt mich jedesmal, noch, doch da es nur gewachsen ist, hat es keinen Wert und in diesem Winter wurden bereits die ersten Bäume gefällt. Noch ist der Eindruck erhalten geblieben, wenn auch die natürliche Erhabenheit dieses besonderen Waldteiles doch schon etwas verloren gegangen ist. Mehr Bäume werden fallen und damit wird "mein" Kirchenschiff auch untergehen.