Montag, Dezember 20, 2004

Unsichtbare Ferne

Nachdem die Temperatur deutlich gefallen ist und zusätzlich noch ein kräftiger Nordwind geholfen hat, ist der Hochnebel verschwunden, aber leider auch der schöne Reifbehang der Bäume, der Himmel ist aufgeklart, und wärmt tagsüber die Sonne, so funkeln des Nachts die Sterne und der zunehmende Mond beleuchtet die Landschaft. Die Luft ist rein und klar und mit den blattlosen Zweigen der Bäume ergeben sich jetzt Aus-, Durch- und Fernblicke, die während des restlichen Jahres nicht möglich sind. Obwohl Wälder die Hügel bedecken, ist die Umgebung offen geworden, zeigt sich zwischen den Bäumen hindurch der Horizont, reiht sich ein Hügelkamm an den nächsten und die Größe und Weite des Wienerwaldes wird sichtbar.
Auf freien Hügelkuppen muß man sich heute schon klug hinstellen, um sich die Spuren menschlicher Eingriffe in diese Waldlandschaft von den Bäumen verdecken zu lassen, doch wenn man es gut anstellt, sieht man kilometerweit in alle Richtungen nur wogende Wälder und mit ein bißchen Phantasie kann man sich in eine andere, weniger vom Menschen beeinflußte Zeit zurückversetzen, als die Wege noch schmal und mühsam waren und die Ansiedlungen noch nicht diese ausufernden Dimensionen angenommen hatten, als der Wald noch nicht all seine Urwüchsigkeit eingebüßt hatte und noch Wölfe und Bären darin umherstreiften. Schwer vorstellbar, bei all den ausgebauten Straßen, den vielen Siedlungen die jedes Tal erfaßt haben, der zerschneidenden Auto- und Eisenbahntrasse, den Steinbrüchen und all den anderen Zeugen steigender menschlicher Ansprüche.
Aber das blenden wir einmal bewußt aus und lassen den Blick über all die Hügel und Höhenzüge streifen. Immer wieder wird der Wald von Wiesenflächen aufgelockert und wenn wir an die Zeit zurückdenken, als es noch große Pflanzenfresser gegeben hat, wie Auerochse, Wisent und Wildpferd, so ist die Vorstellung eines einheitlich bewaldeten Geländes sowieso abwegig. Tiere greifen nun mal mit ihrem Verhalten, mit ihren Äsungsgewohnheiten auch gestalterisch in die Vegetationsentwicklung ein und die Pflanzen haben sich längst daran angepaßt. Erst der heutige Mensch spricht dabei von Schäden, von Schäl- und Verbißschäden und macht Hirsche und Rehe verantwortlich.
Aber das führt in eine andere Richtung.
Wenn der Blick weiterschweift, endet er gewöhnlich im fernen Dunst, wo sich die Formen und Konturen auflösen und ineinander übergehen, so in etwa zwanzig, dreißig Kilometern Entfernung, je nach Jahreszeit. Alles was sich dahinter verbirgt, bleibt für gewöhnlich unsichtbar.
An einem der wenigen klaren Wintertage, so wie es heute einer war, tauchen aber am Horizont plötzlich Berge auf. Die letzten um die 2000 Meter hohen Ausläufer der Alpen. Im Südwesten, etwa sechzig Kilometer Luftlinie entfernt, breit über dem Horizont thronend, das mächtige Kalksteinmassiv des Schneeberges, klar in seinen Umrissen, daß man die Bergstation der Zahnradbahn mit der Elisabethkapelle zu erkennen meint und im Westen, weiter nördlich und auch weiter entfernt, so um die achtzig Kilometer, der seine Umgebung deutlich überragende Ötscher. Da man nicht seine volle Breitseite sieht, ist der Ausblick auf den in Ost-West-Richtung verlaufenden Kamm nicht ganz so beeindruckend, auch wenn man auf den bergsteigerisch schwierigeren "Rauhen Kamm" blickt. Jedenfalls ist er mit fast 2000 Meter deutlich höher als seine Nachbarberge, die er um mindestens zwei-, dreihundert Meter überragt und damit leicht und deutlich zu erkennen ist.
Die Fernsicht reicht noch weiter und Eingeweihten erschließen sich noch viele andere Gipfel, doch die beiden beschriebenen Berge sind die Markpunkte der Landschaft, sind sie nicht zu sehen, bleiben auch die anderen Gipfel in der unsichtbaren Ferne verborgen, erscheinen sie, weiß man, welche Jahreszeit gerade herrscht.