Sonntag, Dezember 26, 2004

Ungewöhnliches Verhalten

Mittlerweile ist es schon wieder ein paar Wochen her. Es ereignete sich beim letzten Ausflug auf meinen Lieblingsberg, der Rax. Aus Zeitmangel, ich war wohl wieder etwas spät aufgebrochen und um den Aufenthalt am Berg länger auskosten zu können, fuhr ich mit der Gondelbahn hinauf. Damit platzt man in eine andere Welt, was mir nicht so gefällt, denn die langsame Annäherung an die Höhenlage durch das Ersteigen fällt weg.
Na gut, ich hatte mich aber dieses Mal anders entschieden und war nach dem Ausstieg auf der Bergstation noch mit mir selbst beschäftigt. So fiel mir zuerst die Gemse, die sich in unmittelbarer Nähe des Gebäudes aufhielt auch nicht auf. Selbst meiner Hündin war das ruhig dastehende Tier nicht aufgefallen. Erst als wir schon vorbei waren und die Gemse langsam weiterzog, nahm ich die Bewegung aus den Augenwinkeln heraus wahr. Patsch, keine zwanzig Meter von mir entfernt und dazu noch zwischen mir und der Bergstation, zog das prächtige Tier ruhig vorbei. Eine athletisch, robuste Erscheinung, schon im dunklen, fast schwarzen Winterfell, mit der eigenartig schwarz-weiß gestreiften Gesichtsmaske, bewegte sich die Gemse bedächtig Richtung Bergwald. Da ich mit meiner Hündin gerne als Letzter aussteige, kamen vom Gebäude auch keine weiteren Menschen daher. Die vorauseilenden Bergwanderer mußten die Gemse wohl alle übersehen haben - oder war ihnen der Anblick einer Gemse zu alltäglich, zu uninteressant? Ich hoffe, daß sie das Tier "nur" übersehen haben.
Meine Hündin hatte ich noch an der Leine, doch das wäre in der Situation gar nicht nötig gewesen. Aufmerksam beobachtete sie das eigenartige Tier, zeigte aber keinerlei Tendenzen die Gemse auch jagen zu wollen. Anscheinend war sie sich selbst noch nicht sicher, was sie von dem Wesen halten sollte.
Ich blieb weiter ruhig stehen, beobachtete und versuchte mir Details einzuprägen. Als erfahrener Tierbeobachter oder Jäger hätten mir natürlich ihr Körperbau oder die Größe der Krickeln (der gebogenen Hörner am Kopf) etwas über Geschlecht und Alter des Tieres aussagen können. Doch Gemsen zählen im Wienerwald nicht zu den erlebbaren Tierarten. Ich glaube, daß es eine ältere Gais (weibliches Tier) war, aber das ist eine Vermutung.
Langsam, ohne ersichtlicher Hektik, zog sie in den Bergwald, blieb immer wieder stehen, blickte (äugte) gelegentlich zu uns und selbst als wir ihr auf dem Weg folgten, ließ sie sich nicht beunruhigen. Der Abstand war mittlerweile etwas größer geworden und ich dachte schon, sie im Bergwald aus den Augen zu verlieren, als die Gemse sich in unsere Richtung drehte und einige Schritte auf uns zu machte.
Wie?
Was war da los?
Die kam zu mir und meinem Hund.
Toll, aber stimmte da etwas nicht?
Es war ja ohnedies ungewöhnlich so ein Wildtier so nahe an der Bergstation vorzufinden.
Die kam immer noch auf uns zu.
War die vielleicht krank, so eine Art Tollwut, wo Wildtiere ihre Scheu vor Menschen verlieren?
Fühlte sie sich von meinem Hund bedroht und wollte ihn verjagen?
Ja, für einen kurzen Moment hatte ich solche Gedanken. Absurd, aber ich hatte sie. Daß die Gemse nun in unsere Richtung kam, wurde meiner Hündin dann doch zu viel. Sie stieg in der Leine auf und ich mußte sie mit etwas Mühe zurückhalten, denn sie fühlte sich wohl zu sehr provoziert, von diesem komischen Tier. Das war dann aber auch für die Gemse das Signal, sich ihrer Rolle zu besinnen, sie machte kehrt und mit ein paar wenigen, eleganten, kraftstrotzenden Sprüngen, jedoch ohne Hektik, entfernte sie sich wieder, verschwand zwischen den Bäumen, hatte uns aber ihre Stärke gezeigt und damit wissen lassen, daß sie sich gut genug fühlte um vor uns keine Angst haben zu müssen.

Über diesen kurzen Moment, als das Wildtier nicht das erwartete, gewohnte Verhalten zeigte und flüchtete, sonder sich uns näherte und meine spontanen Gedanken dazu, denke ich noch oft nach.