Sonntag, Dezember 12, 2004

Rauhreif

Heuer war die Zeit schon reif für ihn. Es ist Mitte Dezember, und bisher war er kaum in Erscheinung getreten. Doch seit letzter Nacht ist der Wald, sind alle Baumwipfel vom Rauhreif überzogen. Wie das Gegenstück zu einer japanischen Tuschezeichnung, schwarze Tusche auf weißem Papier, sind nun alle Umrisse und nur die, weiß, auf dunklem Hintergrund, nachgezeichnet.
Die Temperatur ist ständig gesunken und damit die Luft so weit abgekühlt, daß der über der Gegend hängende Nebel an den Ästen kondensiert und gefroren ist. Kleine filigrane weiße Eiskristalle schmücken jeden Zweig aber auch jeden Buckel und jeden Riß der Rinde. Nadeln die noch nicht abgefallen sind, sind weiße Doppelgänger gewachsen und Zapfen haben weiße Schatten bekommen.
So waren bisher die am Boden liegenden Blätter nur als sich wenig unterscheidende Farbflecken in der Masse des Laubes in Erscheinung getreten, doch nun haben sie ihre Individualität noch einmal zurückbekommen. Jeder Blattrand, jede Spitze, aber auch jede Blattader und jeder Stiel sind nun fein säuberlich nachgezeichnet und damit hervorgehoben. Die Struktur ist deutlich geworden und überstrahlt die Fläche. Zumindest die der zuoberst liegenden Blätter. Darunter verlaufen sich Konturen weiterhin sehr schnell in der ungeheuren Vielzahl.
Aber nicht nur die Details werden betont und treten hervor. Der Wald, als eine ununterscheidbare Ansammlung von Bäumen, die ineinander übergehen, sich in der endlosen Menge verlieren, hat Gestalt bekommen. Denn jeder Wipfel wird vom Rauhreif nachgezeichnet, ob breit ausladend, oder schlank und spitz. Jeder Baum erhält sein eigenes Gesicht - große, mächtige aber auch die kleinen, die es gerade bis in die Kronenregion geschafft haben. Flauschig anmutende, wie Kiefern oder Douglasien, aber auch die spröden, besenartigen weil kahlen Laubbäume. Alle erhielten mit dem Reif ihren eigenen Raum, ihre eigene Tiefe, ihr ganz spezielles Aussehen, ihren ihnen zustehenden Platz unter vielen anderen. Aus einer Masse, die nur in ihrer Gesamtheit wahrgenommen wird, ist eine Gruppe von Individuen geworden, die sie immer waren und bleiben werden. Doch die menschliche Ignoranz macht aus Buchen, Fichten, Eschen, Kiefern, Ahornen, Tannen, Kirschen einfach Wald. Und was bedeutet schon Buchen, unterscheidet sich doch jeder Baum vom anderen. Menschen legen so viel Wert darauf als einzelnes Individuum wahr- und ernstgenommen zu werden und pauschalieren doch so schnell anderes Leben. Ob mehrhundertjährige Bäume unsere aufgeregten Leben verstehen würden?