Donnerstag, Dezember 16, 2004

Naturgeist

Der Herbst ist so gut wie vorüber. Mit dem gefrierenden Eisregen und dem schon seit Tagen vorhandenen Rauhreif, schaut die Landschaft ohnedies nicht mehr herbstlich sondern schon ganz schön winterlich aus. Außerdem beginnt für mich, im Gegensatz zu den Meteorologen, aber die betrachten ohnehin lieber Karten und Grafiken, also für mich beginnt der Winter mit dem ersten Dezember. Aber der Winteranfang ist gar nicht wichtig. Es geht um einen spätherbstlichen Tag, an dem ich etwas Besonderes erlebt habe. Doch was heißt erlebt, ist mir viel eher etwas bewußt geworden. Nur richtig bewußt ist es mir bis heute nicht, denn der Prozeß dauert immer noch an. Aber an diesem Tag hat es begonnen.
Warum komme ich gerade heute darauf? Weil mich das, nun schon zu viele Tage andauernde trübe Wetter, doch, im wahrsten Sinne des Wortes, trübsinnig werden läßt. Und gerade dieser Unterschied meiner Gefühle, der in einer kurzen Beschreibung jedoch von Leuten, denen ich es erzähle, oft verwechselt wird, läßt mich wieder stärker an jenen Tag denken, denn es ist sehr wichtig.
Es war ein durchwachsener Herbsttag und das schlechter werdende Wetter hielt mich davon ab, einen Berg zu besteigen, der bis heute auf meiner Liste steht. So blieb ich im Tal und streifte am Flußufer entlang. Doch das Wetter wurde nicht richtig schlecht und der Reiz, hinauf in die Berge zu kommen war immer noch da. Spät am Nachmittag fuhr ich dann, gegen alle Vernunft auf ein tolles Bergerlebnis, trotzdem die Paßstraße hinauf. Für eine Gipfelbesteigung war es mittlerweile zu spät, doch um in der Latschenregion herumzuzigeunern reichte das Tageslicht allemal. Ein Hubschrauber, der Teile einer Lawinenverbauung auf den gegenüberliegenden Berghang flog trübte meine Freude erheblich, also sah ich zu, möglichst schnell den nächsten Grat zu überwinden, um im dainterliegenden Tal endlich die Bergwelt so genießen zu können, wie ich es bevorzuge.
Doch zwischen Latschen geht es sich nicht so gut, darum kam ich nur mühsam vorwärts und trotz der Meereshöhe war die Sonne schon am Verschwinden. Meine Stimmung schwand ebenfalls und ich dachte schon ans Umkehren, als ich doch noch einen alten Pfad, mehr einen Wildwechsel, ausfindig machte, der mich endlich über den Grat führte.
Müde und nicht mehr allzu hoffnungsfroh gestimmt, blickte ich in das kleine Tal. Mächtige Felsblöcke bedeckten die Flanken und dazwischen mühten sich die Latschen ab, um aus dem bißchen Erde Leben zu schöpfen. Ich blickte und horchte.
Nichts.
Die Sonne war nun untergegangen und das schwindende Licht begann den Schatten des Bergrückens in zunehmende Dunkelheit aufzulösen. Ich schaute und lauschte, hielt meinen Atem an.
Nichts.
Kein Laut, kein Zwitschern, nirgendwo eine Bewegung, nichts regete sich, nicht einmal ein Windhauch.
Nur Stille und Felsen.
Das Tal, der Himmel, die Dämmerung.
Entschwindendes Licht und keine Spur von Lebewesen.
Keine Tiere, keine Menschen und doch war das Tal voller Leben, war in Bewegung und veränderte sich, pulsierte nach einem ganz eigenen Rhythmus, in dem Jahre keine Rolle spielten, das in anderen Zeithorizonten dachte und sich erinnerte, das von anderen Zyklen geprägt war, das sich von tierischen und menschlichen Eingriffen nicht beirren ließ. Eine Lebenskraft die so viel ursprünglicher und beständiger ist, als es menschlicher Vorstellung zugänglich ist, aber auch eine Kraft, die so viel gewaltiger und unerbittlicher ist in ihren Konsequenzen, die auf menschliche, auf tierische Bedürfnisse keine Rücksicht nimmt, sich aber auch nicht beeinflussen läßt. Leben definiert sie anders.

Ich war davor und auch danach, nie wieder so beeindruckt, mir meiner Nichtigkeit bewußt, aber auch voller Zuversicht, denn als Teil des Lebens war ich auch ein Teil dieses Etwas - ich bezeichne es jedenfalls als Naturgeist. Vielleicht war es "nur" der Geist der Berge, aber ich glaube, daß es der Geist der Natur war - der Geist, der Allem innewohnt, der Steine und Felsen, der Berge, des Regens, der Sonne, der Nacht, des Frostes, des Windes, des Schnees, des Winters, des Himmels, der Sterne und auch mir. Als winziger Teil fühlt man sich absolut nichtig und das stimmt zuerst hilflos und traurig, bis man versteht, daß man selbst ein Teil von Allem ist und Alles auch ein Teil von Einem selbst ist.

P.S:
Die Lakote kennen "mitak oyasin"
und in Europa erkannte schon Heraklit "panta rhei"