Mittwoch, Dezember 01, 2004

Ein langer Spaziergang

Hochnebel. Noch ist es hell. Ein Rauhhaardackel begleitet uns heute, als Gasthund. Ihn muß ich an die Leine nehmen, denn ich weiß, daß er mir nicht ausreichend gehorcht. Zumindest an eine Laufleine, trotzdem ist es sehr ungewohnt für mich, ständig einen Hund an der Leine zu führen. Obwohl es mich stört und ablenkt, finde ich die richtigen "inneren Schwingungen" um in den Wald eintauchen zu können.
Dazu sollte ich etwas erklären.
Eine Landschaft, eine Gegend, ein Stück Natur - keine von Menschen geschaffene Einheiten, keine willkürlichen Grenzziehungen - sondern jedes natürliche System, wie ein zusammenhängendes Waldgebiet, ein See mit seinen Schilfufern oder ein Bergplateau mit seinen Abbrüchen und Felswänden, zeichnen sich durch eine bestimmte Lebensgemeinschaft von Pflanzen und Tieren, der eigenen Bodenbeschaffenheit, dem speziellen Wetter, der gemeinsamen Vergangenheit mit ihrer Geschichte, und allen verknüpfenden Beziehungen und Prozessen aus und ergeben, wie so oft, wenn das Ganze mehr ist, als die Summe der Teile, für mich, ich bezeichne es zumindest so, mangels besserer Alternative (und normalerweise lasse ich mich nicht über dieses Thema aus, denn es birgt zu viele Mißverständnisse), als den "Geist" oder die "Geister" einer Landschaft. Und ich bin überzeugt, daß man diese "Geister", ich bevorzuge doch den Plural, spüren kann (natürlich nicht körperlich, niemand tippt mir auf die Schulter, niemand bricht einen Ast für mich - in einer abstrakteren Form), wenn man sich nur dafür öffnet und die nötige Transformation anstrebt. Dafür muß man sich auf diese andere Ebene begeben und sich als integraler Teil des Ganzen begreifen. Weg vom oberflächlichen wahrnehmen, weg vom gezielten suchen und finden wollen und weg vom kenntnisreichen wissen.
Für mich ist es ein "eintauchen", das mir nach all den Jahren trotzdem nur hin und wider gelingt. Es wundert mich nicht, verbringe ich doch die meiste Zeit meines Lebens in einer ganz anderen Umgebung, mit völlig anderen geistigen Voraussetzungen und Herausforderungen und völlig anderen zugrundeliegenden Konzepten.
Wichtig ist mir die Trennung von heute weitverbreiteten esoterischen Modeströmungen, die mir eine Beliebigkeit vermitteln, die ich einfach nicht nachvollziehen kann. "Heute hole ich mir etwas TCM, morgen ein bißchen Schamanismus, dannn eine Prise tibetische Orakelkunst, eine Schwitzhütte wäre toll und der Blick in die Sterne kann ja nicht schaden". Das ist nicht meine Welt, und vielleicht führe ich mit meinem Begriff "Geister" die Leute aber auch nur auf falsche Pfade.
Mir hat meine buddhistische Lektüre geholfen, nur glaube ich nicht, daß mit Erleuchtung mein Weg, mein Zugang gemeint ist, (Erleuchtung geht für mich auf der persönlichen Ebene viel weiter und ist sicher wert angestrebt zu werden, doch löst sich der Mensch damit auch von der Natur und ich will mich nicht lösen, sondern in ihr aufgehen - da gibt es in einer japanischen Geschichte das schöne Bild, daß ein müder Wanderer unter einem blühenden Kirschbaum einschläft, und die herabfallenden Blütenblätter bedecken den Mann, bis er ganz zugedeckt ist und mit dem optischen Entschwinden, verschwindet auch der Leib und am Ende gibt es nur mehr ein Meer aus Blütenblättern - der Mann ist weg, aufgegangen in den Blüten, verschwunden, gestorben?).
Doch am besten ausgedrückt fand ich meinen Zugang (Gefühle die ich seit meiner Kindheit kultiviere) in diversen Büchern die indianisches Gedankengut betrafen (darum auch mein Hang zu Indianern - obwohl ich mich oft frage, ob das, was ich für mich erfahre, wirklich etwas mit diesem "indianischen Geist" zu tun hat - ich glaube, nicht wirklich, aber mir hilft es). Das von einem zeitgenössischen Indianer geschriebene Buch "Rainbow Tribe" war übrigens äußert abschreckend, weniger wegen seinen Überlegungen, als viel mehr wegen seinen konkreten Handlungen. Aber das führt zu weit vom Thema weg.
Noch etwas, Kenntnis der Natur hilft bis zu einem gewissen Grad, doch danach ist sie eher hinderlich.

In den vergangenen Tagen war ich unruhig und unrund, denn, obwohl ich draußen war und mich auf die Ebene meiner "Geister" begeben wollte, blieb ich fremd im Wald, sah zwar Bäume, Sträucher, Kräuter, hörte die Vögel und den Wind, spürte den Nebel und die Kälte, aber immer als etwas Anderes, etwas Fremdes und Distanziertes. Gelegentlich, für kurze Momente war es zwar da, verschwand aber meist gleich wieder. Gestern begann es sich zu verschieben, worüber ich schon glücklich war und heute, ja heute war es wieder da, dieses Gefühl, dieser Zustand.
Die Zeilen bisher, waren eigentlich nur die Einleitung, um zu erklären was ich meine, wenn ich schreibe, daß sich mir heute wieder "meine Geister" gezeigt haben. Es war wunderschön, erhaben und spektakulär. Jetzt müßte ich, wenn ich schon alles erkläre, auch meine Gedanken zu "Schönheit" darlegen, aber belassen wir es dabei, daß schön für mich ein bedeutsamerer, umfassenderer Ausdruck ist.
Wir gingen auf einer Forststraße dahin, die von mir vorgezogenen Wege sind zur Zeit alle sehr weich und matschig, als der Wald, als die Erde zu erstrahlen begann. Es wurde heller, von unten, als ob das Licht aus dem Boden drängte und trotz des Lichtes sah man nirgends einen Schatten. Ein weiches, warmes leicht rottöniges Licht. Dann ebbte es wieder ab, die stumpfen Herbstfarben und die graue Hochnebeldecke hatten uns wieder.
Später, auf der Leiter eines Hochstandes sitzend, beobachtete ich mit Erstaunen, daß die Rotbuchen nicht nur ein rotes, nun bodenbedeckendes Herbstlaub und vorallem kahle rote Zweige haben (wegen diesen rötlichen Zweigen haben die bewaldeten Hügel des Wienerwaldes im Winter auch einen rot-graubraunen Ton und ich dachte mir bisher immer, daß daher auch der Name Rotbuche komme), nein, verblüfft nahm ich es das erstemal in meinem Leben zur Kenntnis, daß selbst die hellgrauen Stämme, die, wenn sie naß vom Regen sind, sich dunkelgrau bis schwarz verfärben, kurz vor dem Auftrocknen eindeutig rot gefärbt sind. Wo kommt diese Rot her?
Wieder später, am Weg zu einer wiesenbewachsenen Hügelkuppe, riß die graue Hochnebeldecke in Fetzen auf und für kurze Momente gab sie den Blick auf einen intensiv farbigen Sonnenuntergang über einer sich im tiefen, dunklen Blau verlierenden Hügellandschaft frei. Doch irgendwie fing der Wind die Nebelfetzen und schob sie wieder zusammen.
Es zogen wieder dichte Nebelbänke heran und auf der Kuppe angekommen war die umgebende Landschaft im grauen Dunst verschwunden und selbst die kahlen Laubbäume des nahen Waldrandes bildeten nur mehr eine nach oben besenartig ausgefranste dunkle Wand. Diese Abfolge von Bildern, dieser spektakuläre Tanz von Licht und Formen - feuchte, kalte Luft strömte gegen mein Gesicht, doch mein Glück hätte ich hinausschreien wollen.
Der Weg zurück, durch den tief nebelverhangenen, schon wieder abenddämmrigen Wald, führte über vertraute Pfade auch am Douglasiensaum vorbei, deren eigene, so eindeutig nicht Fichte oder Kiefer seiende Wipfelformen sich doch noch gut erkennbar gegen den grauen Nebel abhoben mir wie immer eine spezielle Freude bereiteten. Hier war ich zuhause.