Donnerstag, Dezember 30, 2004

Angst

Der Anlaßfall ist eine TV-Sendung zur Situation der Wölfe in Deutschland, doch beschäftigen mich diese Gedanken schon lange. Muß man sich vor dem Wolf fürchten?
Die einen sagen nein, völlig absurd, die anderen ja, unbedingt.
Ich sage - ich weiß es nicht! Ich habe keinerlei Erfahrung mit Wölfen und ich meine nicht die, die hinter einem Gitter oder einem Zaun vorgeführt werden.
Was ich habe, sind Erfahrungen mit Hunden (dazu zählen auch zwei Bisse) und Erfahrungen in freier Natur.
Was Hunde anbelangt, denke ich an meine Malamut-Hündin. Wenn ich ihr einen Kalbsknochen gebe, beobachte ich immer fasziniert, über welche Kräfte der Hund verfügt. Da kracht der Knochen, da wird zermalmt und aufgebrochen, daß ich einfach darüber staunen muß, wieviel sich mein Hund von mir gefallen läßt. Nicht, daß ich sie schlage oder ihr irgendwie weh tue, aber ich setze mich als "Rudelchef" durch und sie akzeptiert das, geht, wenn ich es für nötig erachte, bei Fuß, macht Sitz oder geht am Platz. Was wäre wohl, wenn sie sich einmal gegen mich auflehnen würde? Was, wenn sie wollte, wie sie könnte... Ein Angriff, ein paar Bisse und meine Situation wäre sehr prekär.
Aber sie tut es nicht und ich werde sie auch nie in eine Situation bringen, in der sie es angebracht fände.
Neulich erzählte mir eine Frau, weil sie sich vor meinem Hund fürchtete, der auf sie zugelaufen war (es war ein ungewöhnlicher Vorfall, doch dessen Schilderung führt mich zu weit vom Thema weg), daß man sich eben bei einem Hund nie sicher sein kann. Das habe ich entschieden zurückgewiesen. Ich bin mir sicher, so sicher wie man sich bei einem Lebewesen sein kann! Hunde sind nicht unberechenbar. Natürlich haben sie ein Eigenleben, natürlich machen auch sie "Fehler", doch das bedeutet nicht Tieren prinzipielle Unberechenbarkeit zu unterstellen.
Interessanterweise bringen Unfälle im Straßenverkehr niemanden dazu sich vor Autos zu fürchten. Und warum nicht, warum argumentiert bei Autofahrern niemand mit "man kann sich einfach nicht sicher sein"? Anstatt hysterisch zu reagieren wie bei Tieren, lernen wir mit einer gewissen Restunsicherheit umzugehen.
Gebissen wurde ich zweimal von Hunden, als ich die raufenden Tiere, am Nackenfell packen wollte, um sie trennen zu können. Meine Griffe waren wohl nicht so gezielt. Fürchte ich mich deswegen vor Hunden? Nein, nur gehe ich, wenn sie raufen, heute vorsichtiger vor. Ich habe gelernt, damit umzugehen.
Doch nun zum zweiten Punkt, meinen Erlebnissen in freier Natur.
Als wesentliche Erlebnisse führen ich meine Aufenthalte in Bärengebiet an. Ob es das alleinige wandern in der Dunkelheit ist, oder gar das Übernachten, wenn man weiß, daß es ein Tier gibt, das einem überlegen ist, verliert man seine Unbekümmertheit. Dann kommen irgendwann doch alle Berichte über Bären wieder zum Vorschein, die man jemals gesehen oder gehört hat.
Vorallem als ich draußen übernachtet habe, war in der Aufregung des Ungewohnten auch ein Schuß Angst vor dem Raubtier dabei. Aber nicht die konkrete Angst des bedroht seins, sondern vielmehr die unbestimmte Angst des gar nicht wissens, ob eventuell eine Bedrohung vorliegt. Ich habe nie gelernt, weil ich es mangels Möglichkeit auch gar nicht konnte, mit dem Risiko Bär umzugehen. Als Risiko bezeichne ich den Bären, weil er einfach ein gewisses Potenzial hat. Ein Potenzial Schaden zuzufügen und ein Potenzial zu töten. Das sagt jetzt nichts über die Wahrscheinlichkeit aus. Doch mir genügt die reine Möglichkeit, nur führt mich diese Möglichkeit nicht dazu, daß Tier für seine Fähigkeiten negativ zu bewerten und es als böse zu bezeichnen. Ganz im Gegenteil, doch das vorhandene Potenzial bewirkt bei mir einen gewissen Respekt. Doch leider kann ich dieses Risiko nicht einschätzen - und das verunsichert zutiefst!
Bei Hunden weiß ich etwa wie ich ihr Verhalten, ihre Körpersprache einzuschätzen habe, bei Bären nicht, oder umgekehrt -
Bären sind mir in ihrem Verhalten aber auch in ihren Bedürfnissen fremd.
Und so ginge es mir auch bei Wölfen. Ich kann die Schilderung eines Abenteurers gut verstehen, wenn er alleine in der Wildnis unterwegs ist und plötzlich von mehreren Wölfen "begleitet" wird, daß ihm mulmig zumute wird. Außerdem, warum sollen Tiere die Elche töten nicht auch einmal einen Menschen "erlegen"? Wäre das wirklich so ungeheuerlich? Für mich nicht. Warum sollte es nicht Situationen geben, bei denen sich gewisse Regeln umkehren?
Sind denn alle Menschen schlecht, weil es Mörder gibt? Sind alle Schlangen schlecht, weil manche Giftzähne haben? Ist der Winter schlecht, weil in der Kälte schon Menschen erfroren sind? Ist das Meer schlecht, weil in ihm schon viele ertrunken sind?
Ich habe einen Bericht über Sibirische Tiger gesehen. Ein verletztes Tier hat in einem Winter zwei Menschen getötet und gefressen. Als es erlegt wurde zeigte sich, daß es mehrfach angeschossen und verwundet gewesen war, dadurch stark in seinen Bewegungen behindert. Was belegt das? Das Tiger Menschen fressen? Nein, normalerweise eben nicht, doch es kann vorkommen - und?
Natur hat keinen Heiligenschein, damit haben Wölfe auch keinen. Vor Jahren unterstellten Wolfsbefürworter entschuldigend den Wölfen, daß sie nur alte und kranke Tiere rissen. Dann kam man dahinter, daß das nicht ausschließlich so ist. Waren sie damit doch wieder "schuldig"? Dann entschuldigte man die Wölfe, daß sie nur so viel töten, wie sie fressen können. Auch das hat sich als nicht haltbar erwiesen. Doch wieder "schuldig"? Heute erzählen viele, Wölfe sind für den Menschen völlig ungefährlich. Was, wenn auch das nicht hundertprozentig zutrifft? Ist er dann endgültig überführt?
Warum muß der Wolf gut oder böse sein?
Kann er nicht einfach sein?
Wir brauchen keine Angst zu haben, aber Respekt hat er auf jeden Fall verdient.