Dienstag, November 23, 2004

Ergehen

Der Himmel ist bedeckt, dämpft das Licht, gelegentlich fällt ein bißchen Regen, die Stimmung ist gedrückt. Wohin ich auch gehe, nirgends begegnet mir Leben, der Wald erscheint ausgestorben. Wo sind die Tiere hin? Nicht einmal Krähen lassen sich blicken und die sind sonst überhaupt nicht scheu. In einem Teil des Waldes wüten Forstarbeiter mit ihren großen "Erntemaschinen", fällen Bäume, machen einen schrecklichen Lärm (die fallenden Bäume krachen laut auf den Boden), wühlen mit den Schleppern die Erde auf (für diese Arbeit ist es zu warm denn der Boden ist naß, weich und matschig und trägt nicht), betreiben moderne Forstwirtschaft - gut, daß ich nicht mehr auf ihrer Seite stehe. Melancholisch schlage ich die entgegengesetzte Richtung ein (so wie im Leben).
Der Weg führt mich zu meinem "Langhaus". Es ist nur eine Stelle im Wald, kein Gebäude, aber ich bezeichne diesen Ort so, weil der Schnee des letzten Winters ein paar junge dünne Bäum so gebogen hat, daß sie wie das Gerippe eines Tunnelzeltes übereinander liegen und darunter einen etwa mannshohen Raum bilden. Langhäuser gibt es bei indigenen Völkern aber meine Affinität dazu und das warum und wie sind eine andere Geschichte. Jedenfalls setze ich mich dort gerne auf einen am Boden liegenden Ast und verweile, schließe die Augen und versuche den mich umgebenden Wald einmal mit meinen anderen Sinnen wahrzunehmen - den Wind in den Bäumen, die Geräusche der Blätter, die Laute der Tiere, die verschiedenen Gerüche, die Tages- und Jahreszeit...

Gehe ich auf meinen Spaziergängen durch den Wienerwald so sammle ich Naturerfahrungen. Ich erfahre also obwohl ich gehe. Es müßten also eigentlich Ergehungen sein, nur wenn ich mich in Naturerlebnissen ergehe, oder gar Naturerlebnisse über mich ergehen lasse, sind das wieder ganz andere Erfahrungen.
Gibt es Erfahrungen erst seit der Mensch gelernt hat zu fahren und wenn, was hat er dann vorher gemacht, erlebt? Oder gab es die Erfahrungen schon immer und warum ist dann die Bezeichnung für erleben und fortbewegen die selbe?
Aber das führt mich zu weit von meinem Thema weg.
Es geht darum, wie wir unsere Umwelt, oder genauer Natur erleben.
Meistens bewegen wir uns, wir wandern, wir fahren Rad, wir laufen, wir klettern, usw. Doch durch unsere Bewegung entgeht uns (eigenartigerweise entfährt uns nichts) allerlei. Tiere meiden normalerweise Menschen in Bewegung und um behutsame Veränderungen der Umwelt zu bemerken, sind wir selbst wenn wir gehen zu schnell. Unsere Bewegung stellt eine Beunruhigung dar.
Ganz anders ist es, wenn wir verweilen, wenn sich die Ruhe wieder einstellt. Dann nähern sich uns auch Tiere an, die man/frau sonst nicht zu sehen bekommen hätte. Aber dazu braucht man/frau Geduld, denn es dauert schon ein Weilchen bis die Störung verebbt und Tiere wieder Zutrauen fassen.
So kam ich einmal früher als gedacht von einer Bergtour wieder ins Tal, zum Treffpunkt wo ich abgeholt werden sollte. Ich legte mich am Waldrand in eine Wiese, schrieb meine Bergerlebnisse nieder, die Sonne schien, die Luft war warm und so nach und nach kamen Vögel näher, eine vorlaute Kohlmeise auf meinen Rucksack, ein seltener Schwarzspecht zwei Bäume weiter, dann fand ein Marienkäfer meine Aufzeichnungen sehr interessant, vom Berg hörte ich einen Raben und im Tal muhten die Kühe. Ich fühlte mich als Teil des Ganzen, war sozusagen aufgegangen, oder treffender eingegangen in diesen Flecken Erde.