Samstag, November 27, 2004

Am großen Fluß

Entlang des Flusses zu spazieren, das still vor sich hin ziehende Wasser, dieser Widerspruch der ruhenden Bewegung oder besser, der sich bewegenden Ruhe, teilweise gesäumt von Weiden, Pappeln und verschiedenen kleineren Büschen und dazu die Wasservögel, die man sonst nicht zu sehen bekommt, das alles bildet für mich eine eigene Welt, die ich immer gerne aufgesucht habe. Am Anfang habe ich es einfach als praktisch empfunden, den Damm zu beiden Seiten des Flusses, denn am Dammfuß und auf der Dammkrone gibt es einen Treppelweg, auf denen man so herrlich den Flußwindungen folgen kann. Vermißt habe ich zuerst nur am Ufer, die flachen Schotterbänke, dann tat es mir Leid, daß der Auwald hinter dem Damm keinerlei Verbindung zum Fluß hat und irgendwann ist mir dann der ganze Damm, der den Fluß so einengt, unangenehm aufgefallen. Das ist gar kein Fluß, was mir anfänglich so gefallen hat, ist ein toter Kanal. Mit einem lebendigen Flußsystem hat diese Rinne nichts mehr zu tun. Und was ich am Anfang als so schön empfunden habe, deprimiert mich nun jedesmal wieder.
Der Fluß ist nur mehr eine Wasserstraße und was will man von Straßen erwarten? Nichts. Man meidet sie besser.
Noch dazu erzählten mir einmal ältere Leute, daß sie in den fünfziger Jahren die Verbauung, die Eindämmung miterlebt hatten. Ich ließ mir schildern, wie es davor gewesen war. Flache Übergangszonen mit herrlichen Schotterbänken, der Auwald reichte bis ans Ufer und war durch zahlreiche Nebenarme mit dem Fluß verbunden und überhaupt gab es keine geradlinige Uferlinie so wie heute.
Und da war es wieder - wieder ein Stück wertvoller Natur, die dem Fortschritt geopfert worden war. Es gibt einige Beispiele, dieser absurden Zerstörung, die ich selbst miterlebt habe und wenn ich erfahre, in welch kurzer Zeit das alles geschehen ist, wieviel Naturraum willkürlich vernichtet worden ist, trifft es mich jedesmal wie ein Schlag und läßt mich benommen zurück. Was haben unsere Vorfahren nur alles eingetauscht für den Zweit-, Dritt-, Viertfernseher, das größere Auto, den stärkeren Rasenmäher, die neueren Kleider, die ausgefeiltere Stereoanlage, die Waschmaschine, den Trockner, das siebenundvierzigste Heimwerkergerät, die müheloseren Skiabfahrten, die bequemeren Rolltreppen, die spektakuläreren Seilbahnen und Lifte...
Und doch, stehe ich hier am Ufer der Donau und lasse Wasser und Zeit an mir vorüberziehen, entsinne ich mich eines anderen großen Flusses und der Benommenheit, der staunenden Fassungslosigkeit die mich ergriffen hatte, als ich von der Burg Stahleck über Bacharach, ins Rheintal blickte - zu beiden Seiten Straßen, zu beiden Seiten Eisenbahntrassen, am Fluß ein Schiff nach dem anderen, Ansiedlungen, Weingärten über Weingärten - und die Natur, wo war die geblieben?